Donner, Blitze und flackernde Kerzen. Das klingt wie der Stoff für eine Horrorgeschichte – und für Mary Shelley war es das auch. Sie schrieb ihr Meisterwerk Frankenstein, als sie gerade einmal 19 Jahre alt war, und die dunklen, stürmischen Sommernächte, die ihrer monströsen Schöpfung zum Leben verhalfen, waren fast so dramatisch wie der Roman selbst.
Wunderbarerweise begann die Frankenstein-Saga nicht mit einer Vision, sondern mit einem Vulkan. Im Jahr 1815 erstickte ein gigantischer Vulkanausbruch am Mount Tambora in Indonesien die Luft mit Asche und Staub. Unmittelbar nach dem Ausbruch starben etwa 100.000 Menschen, doch die Gesamtzahl der Opfer war noch viel höher – er gilt heute als der tödlichste Vulkanausbruch der Geschichte.
Im nächsten Sommer blieb die warme Jahreszeit aus. Statt Sonnenschein herrschte in den meisten Teilen Europas Nebel und sogar Frost. In den folgenden drei Jahren kam es in ganz Europa, Asien und sogar in Nordamerika zu Missernten. Es folgten Hungersnöte, Epidemien und politische Revolten. Historiker schätzen, dass mindestens eine Million Menschen nach dem Ausbruch des Tambora verhungerten, während Dutzende von Millionen an einer weltweiten Cholera-Pandemie starben, die der Ausbruch auslöste.
In diesen drei Jahren der Finsternis und Hungersnot schufen einige der größten europäischen Künstler ihre düstersten und dauerhaftesten Werke. Mary Shelley gehörte zu ihnen – doch als sie im Mai 1816 am Genfer See ankam, suchte sie Urlaub und keine literarische Inspiration. Leider war das Wetter in der Schweiz so grässlich, dass sie fast die ganze Zeit im Haus gefangen war.
Mary reiste mit ihrem Geliebten, dem Dichter Percy Bysshe Shelley, ihrem vier Monate alten Baby und ihrer Stiefschwester Claire Clairmont. Claire war zu dieser Zeit mit einem Kind von Lord Byron schwanger, dem bahnbrechenden Dichter, dessen persönliche Affären ihn zu einer der umstrittensten Berühmtheiten Englands gemacht hatten. Erst kürzlich hatte er sich von seiner Frau scheiden lassen und Gerüchten zufolge eine Affäre mit seiner Halbschwester begonnen. Geplagt von Gerüchten und Schulden beschloss er, Europa zu verlassen.
Nach Byrons Abreise überzeugte die besessene Claire Mary und Percy, mit ihr nach Genf zu reisen. Ein paar Tage später traf Byron in der Stadt ein, ohne zu wissen, dass Claire dort sein würde. Mary, die im Alter von 17 Jahren mit ihrem verheirateten Mann durchgebrannt war und daraufhin von ihrer intellektuellen Familie verstoßen wurde, sympathisierte mit dem skandalösen Dichter.
Percy und Byron, die von den Werken des jeweils anderen begeistert waren, schlossen bald eine intensive Freundschaft. Sie ließen ihre anderen Reisepläne fallen und mieteten sich in nahe gelegenen Häusern am Genfer See ein. An den kalten Abenden trafen sie sich mit dem Rest der Gruppe in der Villa Diodati, dem stattlichen Herrenhaus, das Byron zusammen mit seinem Arzt John Polidori für seinen Aufenthalt gemietet hatte. Sie lasen Gedichte, stritten und redeten bis spät in die Nacht.
Das schreckliche Wetter hielt sie meistens drinnen. Donner und Blitze hallten durch die Villa, und ihre Gespräche drehten sich um eine der großen Debatten des Tages: die Frage, ob menschliche Leichen nach dem Tod galvanisiert oder reanimiert werden können. Mary, die sich selbst als „fromme, aber fast stille Zuhörerin“ bezeichnete, saß in der Nähe der Männer und saugte jedes Wort ihrer Spekulationen über die Grenzen der modernen Medizin auf.
Als die Tage verstrichen, begannen die Konflikte zwischen den Urlaubern zu schwelen. Byron war genervt von Claires Versuchen, ihn zu verzaubern. Mary musste sich gegen die sexuellen Annäherungsversuche von Polidori wehren, der von ihr besessen geworden war. Percy war deprimiert. Als sie drei Tage lang im Regen in der Villa gefangen waren, hatten die Spannungen den Siedepunkt erreicht.
Sie vertrieben sich die Zeit mit dem Lesen von Horrorgeschichten und morbiden Gedichten. Eines Abends, als sie bei Kerzenlicht im Dunkeln saßen, stellte Byron sie alle vor eine Herausforderung: Sie sollten eine Geistergeschichte schreiben, die besser war als die, die sie gerade gelesen hatten. Inspiriert von einer Erzählung Byrons kam Polidori dieser Aufforderung sofort nach. Seine 1819 veröffentlichte Novelle „The Vampyre“ ist das erste belletristische Werk, in dem ein blutsaugender Held vorkommt, von dem viele glauben, dass er Byron selbst zum Vorbild hatte.
Mary wollte auch eine Geschichte schreiben, konnte sich aber nicht auf ein Thema festlegen. „Jeden Morgen wurde ich gefragt, und jeden Morgen war ich gezwungen, mit einem beschämenden Nein zu antworten“, schrieb sie später. Doch in einer schlaflosen Nacht, als Donner und Blitze vom See widerhallten, hatte sie eine Vision. „Ich sah das grässliche Phantasma eines Menschen, der sich ausstreckte“, schrieb sie, „und dann, durch das Wirken einer mächtigen Maschine, Lebenszeichen von sich gab.“
Am nächsten Morgen konnte sie mit Ja antworten, als sie gefragt wurde, ob ihr eine Geistergeschichte vorschwebe. In ihrem Buch Frankenstein oder der moderne Prometheus verarbeitete sie die unheimliche Umgebung der Villa Diodati und die morbiden Gespräche der Dichter. Die Geschichte, die sie später ihre „abscheuliche Nachkommenschaft“ nannte, fragt danach, was passiert, wenn Menschen so tun, als seien sie Götter – vielleicht inspiriert durch die Hybris der Gesellschaft, mit der sie in der Schweiz verkehrte.
Auch wenn sie es nicht wusste, sollte Marys Buch, das 1818 veröffentlicht wurde, später die Literatur und die Populärkultur revolutionieren. Doch das Leben der Urlauber nahm kein glückliches Ende. Polidori beging 1821 Selbstmord. Percy Shelley ertrank 1822, im Alter von nur 29 Jahren, bei einem heftigen Sturm. Byron nahm die Tochter, die er mit Claire hatte, Allegra, von ihrer Mutter weg und schickte sie zur Erziehung in ein Kloster; sie starb dort 1822 im Alter von 5 Jahren. Byron starb 1824 an einer Fiebererkrankung.
Von der Gruppe wurden nur Mary und Claire älter als 50 Jahre. Aber das Buch, das diesen gruseligen Sommer inspirierte – und seine erschreckende Geschichte vom Leben nach dem Tod – lebt bis heute weiter.
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