Genf, 4. Januar 1996. Im September 1995 gelang es Prof. Walter Oelert und einem internationalen Team des IKP-KFA Jülich, der Universität Erlangen-Nürnberg, der GSI Darmstadt und der Universität Genua erstmals, Atome von Antimaterie aus den sie bildenden Antiteilchen zu synthetisieren. Neun dieser Atome wurden in Kollisionen zwischen Antiprotonen und Xenonatomen über einen Zeitraum von drei Wochen erzeugt. Jedes dieser Atome blieb etwa vierzig Milliardstel Sekunden lang bestehen, bewegte sich mit annähernd Lichtgeschwindigkeit über eine Strecke von zehn Metern und löste sich dann mit gewöhnlicher Materie auf. Die Annihilation erzeugte das Signal, das zeigte, dass die Anti-Atome entstanden waren.
Ordinäre Atome bestehen aus einer Anzahl von Elektronen, die um einen Atomkern kreisen. Das Wasserstoffatom ist das einfachste Atom von allen; sein Kern besteht aus einem Proton, um das ein einzelnes Elektron kreist. Das Rezept für Anti-Wasserstoff ist sehr einfach – man nehme ein Antiproton, bringe ein Anti-Elektron hervor und bringe dieses in eine Umlaufbahn um das erste -, aber es ist sehr schwierig auszuführen, da Antiteilchen auf der Erde nicht natürlich vorkommen. Sie können nur im Labor erzeugt werden. Die Experimentatoren wirbelten zuvor erzeugte Antiprotonen um den CERN1 Low Energy Antiproton Ring (LEAR), wobei sie bei jedem Umlauf durch einen Xenon-Gasstrahl geleitet wurden – etwa 3 Millionen Mal pro Sekunde. (siehe Schema des Experiments) In seltenen Fällen wandelte ein Antiproton beim Durchgang durch ein Xenon-Atom einen kleinen Teil seiner eigenen Energie in ein Elektron und ein Anti-Elektron um, das gewöhnlich Positron genannt wird. In noch selteneren Fällen lag die Geschwindigkeit des Positrons nahe genug an der Geschwindigkeit des Antiprotons, so dass sich die beiden Teilchen vereinigten und ein Anti-Wasserstoff-Atom bildeten (siehe Diagramm des Prinzips).
Drei Viertel unseres Universums besteht aus Wasserstoff, und vieles von dem, was wir über ihn wissen, haben wir durch die Untersuchung von normalem Wasserstoff herausgefunden. Wenn sich das Verhalten von Anti-Wasserstoff auch nur in einem winzigen Detail von dem des normalen Wasserstoffs unterscheiden würde, müssten die Physiker viele der etablierten Ideen über die Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie überdenken oder aufgeben. Newtons historische Arbeit über die Schwerkraft wurde angeblich durch die Beobachtung des Falls eines Apfels auf die Erde ausgelöst, aber würde ein „Anti-Apfel“ auf dieselbe Weise fallen? Es wird angenommen, dass Antimaterie unter der Schwerkraft genauso „funktioniert“ wie Materie, aber wenn die Natur sich anders entschieden hat, müssen wir herausfinden, wie und warum.
Der nächste Schritt besteht darin, zu überprüfen, ob Anti-Wasserstoff tatsächlich genauso gut „funktioniert“ wie gewöhnlicher Wasserstoff. Vergleiche können mit enormer Genauigkeit durchgeführt werden, bis zu einem Teil in einer Million Billionen, und selbst eine Asymmetrie auf dieser winzigen Skala hätte enorme Konsequenzen für unser Verständnis des Universums. Um eine solche Asymmetrie festzustellen, müssten die Anti-Atome für Sekunden, Minuten, Tage oder Wochen stillgehalten werden. Die Techniken, die zur Speicherung von Antimaterie erforderlich sind, werden am CERN intensiv entwickelt. Derzeit werden neue Experimente geplant, um Antimaterie in elektrischen und magnetischen Flaschen oder Fallen einzufangen, die eine hochpräzise Analyse ermöglichen.
Die erstmalige Erzeugung von Antimaterie-Atomen am CERN hat die Tür zur systematischen Erforschung der Gegenwelt geöffnet.
1. CERN, das Europäische Laboratorium für Teilchenphysik, hat seinen Sitz in Genf. Seine Mitgliedstaaten sind derzeit Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, die Slowakische Republik, Schweden, die Schweiz, Spanien, die Tschechische Republik, Ungarn und das Vereinigte Königreich. Israel, Japan, die Russische Föderation, die Türkei, die Europäische Kommission und die Unesco haben Beobachterstatus.